Arcete feles – das Deutschlandradio hat ‘nen Vogel!

by DIVVS·IVLIVS

CatBird

Jesus war Caesar. Darüber spricht man nicht. Es wird abgewunken, Augen rollen, es scheint förmlich zu riechen, nach allem möglichen, doch keiner weiß so recht wonach. Also lieber die Finger davonlassen und weitermachen wie gehabt. Umso erstaunlicher ist, dass DRadio Wissen, eine Abteilung des Kölner Senders Deutschlandradio, am 6. September 2011 ein Interview zu Francesco Carottas Buch War Jesus Caesar? führte, welches wir weiter unten zusätzlich als MP3 eingebettet haben. Hört, hört… ein Buch, das vor einem guten Jahrzehnt den Jesus-Flohmarkt in Deutschland ein kleines bisschen durcheinandergewirbelt hatte, ist wieder kurz auf der Tagesordnung. Und damit war’s das aber auch schon, denn auch wenn es vom Sender möglicherweise gut gemeint war, ist etwas brauchbares nicht herausgekommen, was nicht nur am Kurzformat des Interviewsegments von lediglich zehn Minuten liegt.

Wo bitte soll man bei solch rasendem Geistesstillstand ansetzen? Vielleicht müsste man zuallererst den Radiomachern die Frage stellen, warum sie das Interview mit Manuel Vogel führten, einem protestantischen Theologen an der Universität Jena und ehemaligen Pfarrer. Sind Protestanten besonders gewandt in römischer Geschichte, oder haben sie sich historisch nicht doch eher durch ihre Abkehr von Rom hervorgetan? Und überhaupt: Ist Francesco Carotta ein Theologe? Geht es in seinem Buch um theologische Fragen? Tatsächlich geht es hier um Geschichtswissenschaft, um Religionsgeschichte, um Altphilologie und Textkritik, um Numismatik, Epigraphik und Archäologie. Um christliche Theologie geht es nicht einmal im Ansatz. Somit ist ein Interview mit einem frommen Theologen nicht nur fehl am Platz, sondern auch gefährlich, denn Theologie vertritt immer eine Agenda, ist also nur bis zu einem gewissen Grad wissenschaftlich. Der Rest ist Dogma. Die Gefahr mangelnder Wissenschaftlichkeit kann man aber in dieser Diskussion nicht gebrauchen. Und so stolpern wir wieder einmal über Schema F: Der Theologe dreht den Spieß um und behauptet unter anderem, die Jesus-Caesar-Forschung sei pseudowissenschaftlich, was sie nachweislich nicht ist. Dazu später mehr. Angefangen wird aber am Anfang, und bereits die Präsentation des Themas vor Beginn des eigentlichen Interviews enthält einige Fehler.

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“Jesus war Julius Caesar”, der allererste Satz, gehört bereits dazu, denn korrekt muss es lauten: “der historische Jesus war Julius Caesar” – oder alternativ: “Jesus Christus ist der vergöttlichte Julius Caesar im östlichen Spiegel”. Dieser feine Unterschied muss gemacht werden, weil man sich sonst unlogischer Argumente bedient (s.u.). Im direkten Zusammenhang impliziert der Radiomoderator, dass unsere Forschung revolutionär und weltbewegend ist. Das mag vielleicht stimmen, aber im Endeffekt geht es ihm dann doch nur um die Vermutung, dass wir das “Weltbild von 2,26 Milliarden Christen über den Haufen” werfen wollen. Weniger Lob als Polemik. Nichts aber liegt uns ferner als ein Umsturz, denn das einzige, was zählt, ist die nüchterne, neutrale Wissenschaft, die Wiederentdeckung der historischen Wahrheit. Aber einmal angenommen, wir hätten mit Carottas Theorie recht, und die Folge dieser Forschung wäre tatsächlich die Zerstörung des Christentums, sollten wir etwa die Finger davonlassen, nur weil 2,26 Milliarden Christen (und weiterhin auch 1,57 Milliarden Moslems) betroffen sind? Wahrscheinlicher ist jedoch, dass sie das Christentum retten würde, weil alle Zweifel an der historischen Identität Jesu Christi ein für allemal beseitigt wären. Denn wer wird je die Existenz Caesars anzweifeln können?!

In der Einleitung zum Interview stellt der Sender nun Carottas Theorie schlaglichtartig vor. Auch hier arbeiten die Radiomacher fehlerhaft. “Jesus war keine historische Figur”, hören wir. Dies ist falsch, denn es müsste lauten: “Jesus von Nazareth war keine historische Figur”. Das sagen allerdings nicht wir, sondern viele andere Wissenschaftler, darunter echte Koryphäen: Historiker, Religionsforscher, Textkritiker, ja sogar Theologen – seit über einhundert Jahren. Wir hingegen geben uns damit nicht zufrieden und sagen, dass hinter Jesus dennoch eine fassbare historische Existenz steckt, nur halt eine andere Person als der gemeinhin fabulierte Wandergaliläer, nämlich die geschichtliche Person Gaius Iulius Caesar. Wie also kann man uns das Gegenteil unterstellen? Hat etwa Julius Caesar nicht gelebt? Haben wir etwas verpasst? In Wahrheit ist es eine Verunglimpfung, denn man steckt uns in eine Schublade mit den mythers, den (teilweise radikalen) Verfechtern der fixen Idee, dass Jesus ein reines mimetisches Fantasieprodukt ist, nicht viel besser als die Zahnfee.

“Vielmehr lebt in den Evangelien der Caesarenkult weiter.” Würden wir das behaupten, wären wir ganz schön blöd, denn das Christentum stand vielfach in Opposition zum Kult der Caesaren. Das Christentum ist nicht die Form, in der der Kaiserkult fortlebt, sondern der Kult des ursprünglichen “Kaisers”, der des vergöttlichten ersten Caesars: Julius Caesar. Großer Unterschied! Aber weiter im Text.

“Der Eichenkranz des Retters gleicht der Dornenkrone des Heilands.” Das stimmt nicht ganz. Der römische Eichenkranz (corona quercea bzw. civica) hat zwar bereits Ähnlichkeiten mit Jesu Dornenkrone, aber dieser Kranz wurde nur dem Retter eines einzelnen Römers verliehen. Soteriologisch ist bei Caesar die Rettung aller Römer wichtiger, die Erlösung der Welt in ein neues Zeitalter, und dafür erhielt er die corona graminea bzw. obsidionalis, und diese könnte locker als Jesu Dornenkrone durchgehen.

“Die Lebensläufe von Jesus und Caesar sind ähnlich.” Das ist verfälschend, denn die Quellensynopsis zeigt mehr als nur “Ähnlichkeiten”. An vielen Stellen existiert Deckungsgleichheit und enge chronologische sowie inhaltliche Parallelität. Wenn wir in der Caesar-Quelle “Ich bin nicht König, ich bin Caesar” sowie “Wer auf keiner Seite steht, ist auf meiner Seite” lesen, und parallel dazu im Evangelium “Wir haben keinen König denn den Kaiser” sowie “Wer nicht wider uns ist, der ist für uns”, dann kann man das nicht als “Ähnlichkeiten” abtun; und von solchen “Ähnlichkeiten” gibt es eine erschöpfende Anzahl.

“Die Reaktionen der Fachwelt? Blieben weitestgehend aus.” Ach ja? Schauen wir doch mal, wer alles darauf reagiert hat, nicht zuletzt auch in wissenschaftlich veröffentlichter Form: Luciano Canfora (Historiker), Erika Simon (Archäologin), Robert M. Price (Theologe), Francisco Rodríguez Pascual (Anthropologe/Priester), Antonio Piñero (Gräzist), Fotis Kavoukopoulos (Altphilologe), Maria Wyke (Latinistin), Gaetano Forni (Agrarhistoriker), Peter Stothard (Wissenschaftsjournalist), natürlich auch Geistliche wie Stephan Kessler SJ sowie zahlreiche Wissenschaftler, Philosophen und Theologen aus den Niederlanden, wo Carottas Forschung eine nachhaltige und lebhafte Diskussion entfachte, darunter Thomas von der Dunk (Historiker), Gerard Janssen (Plutarch-Forscher), Wim J. der Ridder (Zukunftsforscher), Paul Cliteur (Philosoph) und Jacobine Geel (Theologin). Die Mehrzahl aller Vorgenannten steht übrigens positiv bis zustimmend bis teilweise unterstützend zu Carottas Theorie. Selbst in kritischen Auseinandersetzungen finden sich regelmäßig Elemente der Zustimmung, zum Beispiel bei der Theologin Annette Merz (zu ihren Argumenten cf. dieser Artikel). Dies sind – das versteht sich von selbst – natürlich nicht alle, die sich öffentlich äußerten (vgl. diesen Artikel für einen vollständigen Überblick). Andere Wissenschaftler, wie zum Beispiel der Althistoriker und Theologe Manfred Clauss, hatten auch keine Berührungsängste. Weiterhin arbeitete Carotta bereits als Caesar-Experte für mehrere Filmprojekte, nicht zuletzt für den History Channel, vor und hinter der Kamera. Woher kommt also die seltsame Aussage im Deutschlandradio, dass die Reaktionen der Fachwelt auf Carottas Buch weitestgehend ausblieben? Aus der Wikipedia, woher sonst?! In der damaligen Fassung des Wikipedia-Artikels las man nämlich folgendes: “Carottas Hypothese ist wissenschaftlich nicht anerkannt. Die Historische Jesusforschung [sic!] beachtet seine Publikation nicht […].” Na, das geht ja gut los: Ein Radiosender, der den Begriff “Wissen” im Namen trägt, verbreitet uralte Propagandalügen aus der Wikipedia in einer seiner Sendungen, ohne zu recherchieren, ob die überhaupt der Wahrheit entsprechen. Der Zweck ist klar: Carotta soll dem Zuhörer als unbeachteter Spinner vorgeführt werden – was übrigens auch die Agenda der Autoren des Wikipedia-Eintrags ist. (Die Versionsgeschichte und das Archiv sprechen Bände.) In Wahrheit aber ist Carottas Wissenschaft längst auf dem langen Weg in den Mainstream, und dies nachweislich.

Auftritt Vogel. Es beginnt das eigentliche Interview mit einem Theologen, der sich “bestens” mit dem Neuen Testament auskennt. (So jedenfalls der Moderator.) Könnte sein. Von einem christlichen Theologen sollte man eigentlich erwarten, dass er das Neue Testament aus dem Effeff kennt. Aber kennt Vogel sich auch mit Julius Caesar aus? Mit seinem Kult? Den römischen Quellen? Hat er sich mit Carottas Theorie überhaupt beschäftigt? Wir werden sehen. Was gleich zu Beginn auffällt, ist Vogels Tonfall, den er auch mit einer kleinen Bemerkung doppelt: “ein tiefes Seufzen”. Man ist geneigt, hier die Überheblichkeit eines Professordoktors herauszuhören, der sich eher widerwillig aus seinem Elfenbeinturm herablassen muss, um die Thesen eines dahergelaufenen Irren abzustrafen. “Aber gut, für DRadio Wissen mache ich mal eine Ausnahme”, hat er sich vielleicht gedacht, “die sind ja seriös”. Angeblich.

Gleich zu Beginn schränkt Vogel ein, dass er sich mit dem Thema nicht befasst hat, sondern nur die knapp gehaltene Zusammenfassung der Theorie auf Carottas Internetseite gelesen hat. Unabhängig davon, dass er als Theologe bereits der falsche Sendegast ist, offenbart er sich mit diesem unverschämten Eingeständnis als völlig ungeeigneter Interviewpartner, und der Moderator könnte hier eigentlich das Gespräch schon abbrechen. Tut er aber nicht, denn Sendezeit muss ja irgendwie gefüllt werden. (Ein paar Minuten byzantinische Chöre wären besser gewesen.) Erwartungsgemäß äußert sich Vogel nicht inhaltlich, sondern insinuiert in zweifacher Weise, dass es sich bei War Jesus Caesar? um Quatsch handelt. Zu diesem Zweck verweist er polemisch auf “schlechte Verlage” und das böse Internet, zwei Scheinargumente und Trugschlüsse à la “es gibt Spinner im Internet, also ist Carotta ein Spinner, weil er auch im Internet veröffentlicht”. Mindestens jedoch guilt by association. So etwas lenkt wunderbar vom Thema ab. Schizophren ist aber, dass Vogel über die ganzen Spinner im Internet klagt, sich gleichzeitig aber, um Carotta zu kritisieren, aus den Ergüssen exakt jener nur marginal gebildeten oder mindestens recherchierfaulen Spinner bedient, z.B. der Online-Enzyklopädisten.

Hoffen wir mal, dass Vogel nach diesem paralogischen Einstieg inhaltlich zur Sache kommt. Doch wir hören zunächst wieder nur Polemik: “Carotta hat sich in eine fixe Idee verrannt.” Mal ganz davon abgesehen, dass dasselbe von Kopernikus, Galileo, Darwin et al. und ihren “fixen Ideen” gesagt wurde, woher weiß Vogel, dass sich Carotta “verrannt” hat? Wenn wir uns die Veröffentlichungsgeschichte Carottas anschauen, sehen wir keinen irrlichternden Amateur, der sich im Dickicht einer verworrenen Theorie verrannt hat, also im Prinzip auf der Stelle tritt, sondern einen seriösen Wissenschaftler, der beständig und dezidiert weiter dem Weg folgt, den ihm seine Theorie vorgibt, neue Veröffentlichungen und Erkenntnisse produziert und in alle Richtungen offen bleibt.

Dann aber wird Vogel persönlich und ehrenrührig: “[Carotta] ist ein vielseitig begabter und interessierter Mensch […]”. Was ist hier der Subtext? “Vielseitig begabt” sagt uns, dass Vogel ihn allerhöchstens für ein “ewiges Talent” hält. Nette Ansätze vielleicht, mehr aber auch nicht. “Interessiert” verweist auf einen nur mäßig gelehrten Parvenü, dem der Zutritt in die Wissenschaftselite, in der Vogel es sich anscheinend gemütlich gemacht hat, für immer versperrt bleiben mag – eine Wortwahl geboren aus Hochmut, die nur Blauäugige “diplomatisch” nennen würden. Aber wer ist Francesco Carotta? Sicherlich finden sich in seiner Vita bestimmte Schwerpunkte, aber ungewichtet ist er mehrfacher Akademiker, Ingenieur, Medizintechniker, Linguist, Übersetzer und Dolmetscher, Philosoph, Polemologe, Altphilologe, Bibelforscher und Religionshistoriker, Experte für Caesar und Laurentius Valla, Dozent und Lehrer, Verlagsleiter, Autor von Büchern und Artikeln, aber auch Satiriker und Zeichner, er ist Organisator von Gastarbeiterprogrammen, politischer und kultureller Aktivist, Radio- und Zeitungsmacher, Innovator im Bereich EDP, OCR und AI, et cetera – und nicht zuletzt ist er Mitbegründer der renommierten tageszeitung. Früher nannte man solche Personen Polyhistor. Heute wird es gerne als “vielfach begabt und interessiert” abgetan. Na, wenn das so ist…

Es folgt Vogels Versuch, Carotta als Antichristen darzustellen: “[Carotta] versucht nun, die Grundlagen des Christentums mit einer Sensationsgeschichte ins Wanken zu bringen.” Eine Sensationsgeschichte ist es allemal, das ist richtig; jedenfalls tönte es so in den Reaktionen einiger immerhin seriöser Wissenschaftler. Der Rest dieser Bemerkung ist jedoch eine Verdrehung der Tatsachen. Unabhängig davon, ob Carottas Theorie wissenschaftlich wahr ist oder nicht, geht es nicht darum, die Grundlagen des Christentums ins Wanken zu bringen, sondern die Grundlagen aufzudecken! Aber angenommen, Carottas Theorie ist korrekt, wessen Gebilde wankte dann, welches Haus wäre auf Sand gebaut? Solche scheinargumentativen Allgemeinplätze kann man in jede x-beliebige Richtung drehen. Vogel sollte lieber zu Potte kommen und inhaltlich-substantiell etwas beitragen. So aber ist bislang das Interview das einzige, was hier wankt.

Dann wiederholt Vogel einen Informationshappen aus der Einleitung, durchsetzt mit arrogantem Lachen: “Es ist […] kein Zufall, dass dieses Buch schlicht nicht rezipiert wurde […].” Unabhängig davon, dass Carotta mehr als nur dieses eine Buch geschrieben hat, wurde oben bereits hinreichend erklärt, dass diese Annahme erstunken und erlogen ist. Schon die Anzahl der Buchübersetzungen widerlegt Vogels Darstellung. Die wissenschaftliche, populäre, feuilletonistische, klerikale und künstlerische Rezeption (und auch Akzeptanz!) von Carottas Forschung war bislang äußerst umfangreich für solch eine Außenseiterstellung. Da hat wohl der Herr Professordoktor (wie auch DRadio Wissen) seine Hausaufgaben nicht gemacht.

Dann erklärt Vogel, warum das Buch (angeblich!) nicht rezipiert wird. Es liegt nicht daran, dass “[Carottas] Thesen so gefährlich sind […]” – na, dann ist ja alles gut, Herr Vogel, keine Gefahr für’s Christentum, und so können Sie sich nun getrost auch einmal inhaltlich mit dem Thema auseinandersetzen –, “sondern weil sie so haltlos sind.” Gut, okay, dann sagen Sie uns doch mal, warum sie so haltlos sind. Seien Sie doch mal ein guter Wissenschaftler. Vogel weiter: “Das ist eine Flickschusterei aus Halb- und Viertelwahrheiten [genervtes Einatmen], mit denen man Nichtfachleuten [sic!] vielleicht blenden kann, aber seriöse Wissenschaft ist das nicht.” Und? Beispiele, Herr Vogel? Ach ja, stimmt, Sie haben sich ja gar nicht mit der Theorie befasst, wie Sie eingangs erwähnten. Dann bringen wir doch mal ein paar kleine Beispiele.

Zu Anfang steht der Vorwurf der Flickschusterei. Zunächst einmal sind, unabhängig von den darunterliegenden Strukturen der Geschichte und der Erzählung, die Evangelien in ihren Minutien selbst bereits eine himmelschreiende Flickschusterei, also muss jede Befassung mit dem Evangelium, Perikope für Perikope, Vers für Vers, diesem auf multiple Weise transponierten und sehr häufig widersprüchlichen Patchwork Rechnung tragen. Wenn man sich umgekehrt Carottas Buch anschaut, erkennt man trotz des klassisch-humanistischen Vorgehens klare Strukturen, große Blöcke, die sich zum Beispiel mit Caesar und seinem Bild befassen, mit seiner Vergöttlichung, mit der Passion Christi – und darin insbesondere der Kreuzigung –, beschlossen von einer klaren Synopsis der evangelischen und römischen Quellen. Gerade letzterer Punkt, die Synopsis, könnte kaum stringenter durchgeführt werden, höchstens ausführlicher. Trotzdem wäre es schön, zu erfahren, wie Vogel als Wissenschaftler zu dem Schluss gekommen ist, dass Carottas Veröffentlichungen “Flickschusterei” sind. Einfach nur zu behaupten, dass sie es sind, ist ein unwissenschaftliches und demagogisches Nichtargument.

Dann ist da der Vorwurf der Halb- und Viertelwahrheiten. Zunächst einmal: Was sind “Halb-” und “Viertelwahrheiten”? Etwa eine Umschreibung von Bullshit? In der Wissenschaft existieren nur Wahrheits- und Unwahrheitswahrscheinlichkeiten, abgesehen von bestimmten Naturgesetzen. Überspitzt: Entweder eine Sache ist wahr (= hinreichend belegbar), oder sie ist es nicht. Entweder “Jesus von Nazareth” war eine historische Person, oder die historische Person hinter der Figur “Jesus” war Julius Caesar. Der historische Jesus war definitiv nicht zur Hälfte oder zu einem Viertel Julius Caesar. Aber vielleicht bezieht sich Vogel auch hier auf die konkreten Inhalte. Leider führt er keine Beispiele an, weswegen wir wieder mal für ihn die Arbeit machen müssen. Nehmen wir doch jenes aus der Einleitung der Sendung, auf das Vogel übrigens mit keiner Silbe eingeht: Aus Caesars veni vidi vici (“ich kam, ich sah, ich siegte”) wurde im Evangelium “ich kam, ich wusch mich, ich ward sehend”. Der Übergang von “besiegen” zu “sich waschen” ist im Griechischen ein einfacher: ΕΝΙΚΗϹΑ (enikisa) wird zu ΕΝΙΨΑ (enipsa). Oder da wäre Caesars “Scheiterhaufen” (ΠΥΡΑ), der zur “Myrrhe” (ΜΥΡΑ) bei der Kreuzigung wird. Oder da wäre (bilingual) das “Kremieren” (CREMO) des Herrn [Caesar] auf dem Holz [des Scheiterhaufens], was zum “Hängen” (ΚΡΕΜΩ) des Herrn [Christus] am Holz [der Marter] wurde. All das soll also “unhaltbar” sein, sollen “Halb-” oder gar “Viertelwahrheiten” sein. Dass Sankt Augustinus einst dasselbe sagte? Zählt das nicht? Dass selbst Julius Caesar (bzw. seine Schreiberlinge) dieselbe Art von Fehler beging (BG 6.27), nämlich die Beschreibung eines Elefanten unter Nennung als “Elch” (alces), wobei in Wahrheit in der griechischen Vorlage “Elefant” (ΕΛΕΦΑΣ) als “Hirschtier” (ΕΛΑΦΟΣ) fehlgelesen wurde? Zählt auch nicht? Blöderweise sind solche Verschreibungen weithin anerkannt und zur Genüge wissenschaftlich behandelt worden (z.B. Seel 1967, 41). Bei Carotta soll dasselbe Phänomen aber “unhaltbar” sein, oder allerhöchstens als “Halbwahrheit” durchgehen? Dann müsste man schon ganz genau darlegen, warum solche Fehler bei Caesar und anderen Schreibern akzeptiert sind, aber beim Evangelium nicht akzeptiert werden dürfen. Die Argumente würden wir gerne einmal hören!

Wir könnten unzählige weitere Beispiele anbringen, aber aus dem Vakuum der DRadio-Sendung schallt nichts zurück. Also tasten wir uns weiter vor, in der Hoffnung, dass Vogel doch irgendwann vielleicht etwas substantieller wird. Vogel weiter: “Die Ähnlichkeiten, die genannt wurden zwischen Jesus und Caesar, sind so äußerlich, so formal, dass sie nichts aussagen, oder sie sind konstruiert und an den Haaren herbeigezogen.” Es ist kaum zu erwarten, dass Vogel, der (wie er selbst sagt) nur eine oberflächliche Zusammenfassung von Carottas Theorie gelesen hat, zu einem anderen Ergebnis kommt, dass es für ihn lediglich “Ähnlichkeiten” sein können, die “äußerlich”, “formal”, nichtsagend, “konstruiert” oder “an den Haaren herbeigezogen” sind. Auf die von uns oben genannten Beispiele sowie weitere feinstrukturierte Vergleiche in Carottas Buch trifft das jedenfalls nicht zu. Aber das hat Vogel ja nicht gelesen. Tja, was soll man sagen? Vielleicht: Warum ist Vogel nicht ehrlich?

Aber plötzlich kommt er doch noch mit so etwas wie ein paar Beispielen. Vogel erklärt uns süffisant, dass Jesus den Jordan nicht überquerte, sondern nur an ihm entlanglief: “[…] also dass beide einen Fluss überqueren – Jesus hat den Fluss gar nicht überquert, sondern an diesem Fluss Johannes getroffen”. Schön zu wissen! Vermutlich ist Jesus nicht einmal in den Fluss gestiegen und wurde am Ufer in einer Schüssel getauft, und die ganze Ikonographie, die ihn mitten im Fluss mit Johannes dem Täufer zeigt, ist alles Fantasie. Was Vogel geflissentlich ignoriert, ist dass auch Caesar in seinem Bericht die Überschreitung des Rubicon nicht erwähnt. Es war Caesar peinlich, da es ja eine Sünde war, jenen Grenzfluss nach Italien mit einer Armee zu überschreiten. Aber unser Theologe liest Caesar offensichtlich nicht, und das Evangelium nur mit der passenden Brille. Vielleicht erklärt er uns mal, warum Jesus sich taufen lassen musste, wo er doch ohne Sünde war. War die Überschreitung des Jordan seine Sünde, die entsprechend verschwiegen wurde? (Man könnte weiterhin in die Einzelheiten der markinischen Transposition eintauchen, in die chronologischen Verschiebungen, und die Tatsache erläutern, dass bei Jesus kurz darauf sehr wohl die Überschreitung des Wassers genannt wird, wenn auch implizit.)

Vogel: “Sie haben in Städten gewirkt; zwei klingen gleich; der Rest ist unähnlich.” Das ist falsch. Dass nur zwei gleichlautende Orte – Corfinium, das zu Cafarnaum wurde – in der kurzen Zusammenfassung von Carottas Theorie genannt werden, bedeutet nicht, dass es im Buch selbst die einzigen sind, die gleichklingen. Ein paar Beispiele: Jerusalem wird wie Rom sowieso meist nur “die Stadt” genannt, und eine “heilige Stadt” waren sie beide; wenn Caesar explizit “nach Rom” geht oder “in Rom” ist, verwandelt es sich systematisch in erêmo, den Aufenthalt in der “Wüste”; Bithynien wird zu Bethanien; das Kapitol (Capitolium) in Rom, also die Schädelstätte des Etruskerkönigs Olus (Caput Oli), bleibt als “Schädelstätte” erhalten; Mare Galliae wird zu Mare Galilaeae; Zela (ausgesprochen “Sila”) wird zu Siloam; Tyros und Sidon sind gar als Hauptnamen gleichgeblieben; et cetera. Das hätte Vogel wissen können.

Vogel weiter: “Beide hatten Vorgänger, Nachfolger, Konkurrenten und Feinde; […] das sagt alles überhaupt nichts aus, weder einzeln, noch in der Summe.” Wenn man es so allgemein und unangreifbar hält wie Vogel, sagt es natürlich nichts aus. Wenn aber dieses grobe Gerüst in der Hochauflösung eine Parallele nach der anderen aufweist, dann ist das sehr vielsagend. Beispiel Pompeius, der Caesars Vorgänger und Konkurrent war. Gleiches gilt für Johannes den Täufer. In näherer Betrachtung finden sich alle weiteren Attribute als Parallelen wieder (ohne jetzt auf die genauen Transpositionen einzelner Wörter einzugehen): die Aktivität im Land vor der Ankunft des Herrn, das Wasser, die Verkündung der Nachfolge, die Schnürsenkel seiner Schuhe, der Traum am Wasser (einschließlich des Aspektes der Familie), das Verschwinden et cetera, und zu guter Letzt der Tod beider durch Enthauptung, wobei in Kontext, Chronologie, Konstellationen und Reaktionen Übereinstimmungen festzustellen sind. Und wie bei Pompeius zeigt sich überall, durchgängig und systematisch eine enorme Anzahl verschiedenster Parallelen, von den großen Strukturen bis hinab zur Transposition einzelner Wörter.

Auf die nächste Frage des Moderatoren antwortet Vogel: “Mit dieser Theorie ist er auf weiter Flur buchstäblich alleine”. Das ist nachweislich falsch. In Wahrheit hat der oben genannte wissenschaftliche Mainstream selbst schon sehr ähnliche Theorien produziert. Hier ein knapper und in keiner Weise vollständiger Überblick: Bruno Bauer vermutete einen römischen Ursprung des Christentums und der Evangelien. Paul-Louis Couchoud, Kardinal Sirlet et al. sowie nicht zuletzt die Altkirche selbst [sic!] propagierten ein in Rom verfasstes, mitunter lateinisches Urevangelium. Der protestantische Theologe Ethelbert Stauffer wies nach, dass die Karfreitagsliturgie auf Caesars Passion, Tod und Begräbnis basiert, und dass Jesu Politik der Feindesliebe in Caesar und seiner sehr spezifischen Clementia Caesaris einen direkten Vorläufer hat. Der Altphilologe Wilhelm Kierdorf zeigte immerhin en passant auf, dass die Improperia der Osterliturgie stilistisch von den Klageliedern bei Caesars Begräbnis abhängen. Der Theologe Detlev Dormeyer belegte, dass Plutarchs Caesar-Werk wie das Markusevangelium direkt auf das Genre der römischen Vita zurückgehen, eingeführt von Gaius Asinius Pollio mit seiner Caesar-Biographie. Zahlreiche Wissenschaftler sehen schon seit langer Zeit die engen Verbindungen zwischen der römischen Herrscherreligion sowie dem Dionysos-Kult und dem Christentum, wie Vogel selbst zugibt – ohne freilich zu erwähnen, dass der Kult des Dionysos (Liber Pater) von Caesar in Rom eingeführt wurde und Caesar selbst synkretistisch zu Dionysos stand. Als nur ein Beispiel sei der Terminus Sohn Gottes genannt, der wie vieles andere aus dem Kaiserkult übernommen wurde und bereits bei Julius Caesar zu finden ist, später dann übernommen von Octavian/Augustus (Divi filius). Dies akzeptiert selbst der Vatikan (cf. e.g. die Biblica-Artikel; siehe Library). Wie kann Vogel also behaupten, dass Carotta allein auf weiter Flur steht? Entweder kennt der Theologe nicht alle relevanten Veröffentlichungen zu diesem Thema – womit er wohl ein höchstens mäßiger Wissenschaftler wäre –, oder er kennt sie und unterschlägt sie im Interview. Dann wäre er ein Lügner, dem es nur darum geht, Carotta schlecht zu machen.

Vogel fügt an: “Er wird nicht rezipiert [was nicht stimmt (s.o.)], und das mit Recht, weil das einfach alles furchtbar unseriös ist.” Dann sollte Vogel sagen, warum es “alles furchtbar unseriös” ist. Es einfach nur zu behaupten, ist unwissenschaftlich. Aber das Schlagwort “unseriös” ist der erste Vorbote des späteren Vorwurfs der Pseudowissenschaftlichkeit. (Dazu später mehr.)

Danach erklärt Vogel, was an sich bereits ein kleines Zugeständnis ist, dass es “Anklänge an […] Kaiserviten in den Evangelien [gibt]”, aber das seien nur “Übermalungen”, nur “einzelne Motive, einzelne Pinseltupfer, die man auf keinen Fall in der Weise belasten kann, wie Carotta das tut.” Schade dass Vogel keine Belege bringt. Beispiel: Es ist schon häufig auf die Parallelen zwischen der Geburtsgeschichte Christi im Lukas- und Matthäusevangelium und der des Augustus hingewiesen worden, und das nicht nur von Carotta. Carotta zeigt darüberhinaus, dass es sehr wohl belastbare und zwingende Parallelen sind, beispielsweise die Verkündung, der Traum, die jungfräuliche Geburt, der Stern, der Stall, die Krippe, Ochs und Esel, der Kindermord, die Ägypten-Connection, die Predigt als junges Kind, assoziiert sogar die aufwartenden Könige aus dem Osten etc. Aber wie kann Vogel das wissen, wenn er das Buch nicht gelesen hat?

Dann handelt das Interview von der Herausarbeitung von “heidnischen Motiven” und Attributen im Evangelium, wozu der hinlänglich belegte hellenistische Einfluss zählt, aber auch die späteren Übernahmen aus dem Kaiserkult. Hierzu ist jedoch zu bemerken, dass jeder einzelne dieser Einflüsse bereits bei Julius Caesar zu finden ist, zum Beispiel ganz explizit die “Verwandlung” von Wasser in Wein. Das hat Signifikanz und System und geht weit über lockere, oberflächliche Parallelisierungen hinaus, wie beispielsweise zu den angeblich im Evangelium enthaltenen homerischen Motiven. (War Jesus etwa Achilles? Oder Ajax? Natürlich nicht, aber die tragische Verbindung Caesar-Ajax gab es sehr wohl, weswegen es sicher kein Zufall ist, dass Forscher Homerisches im Evangelium vermuten. In Wahrheit ist es aber caesarianisches Gut.) Den Fehler begeht Vogel dort, wo er annimmt, dass es ein primär jüdisches Geschichtsgebilde ist, das lediglich mit griechisch-römischen Elementen angereichert wurde. Dies ist bislang nicht bewiesen, und auch unwahrscheinlich, denn dazu sind die hellenistischen Elemente viel zu prominent vertreten, nicht zuletzt die zahlreichen Latinismen im ältesten Evangelium (Markus), die einen römischen Ursprung der Schrift belegen – ganz unabhängig von den omnipräsenten Übereinstimmungen zwischen der Geschichte Christi und der Vita von Julius Caesar. Somit lässt sich viel eher sagen, dass das Evangelium ein griechisch-römisches, im Ursprung gar lateinisches Werk ist, dem im Zuge der diegetischen Transposition zuerst ein aramäisches Overlay hinzugefügt wurde, aus dem dann ein judaisierendes zu schaffen versucht wurde. Im Klartext: Die Bibelforschung hat ihr Pferd von hinten aufgezäumt.

Danach fragt der Moderator nach dem “historischen Jesus” im Neuen Testament, womit er natürlich “Jesus von Nazareth” meint. Es ist eine sehr gute Frage, weil nämlich der Nachweis der historischen Existenz von “Jesus von Nazareth”, also dem predigenden Wandergaliläer, automatisch bedeuten würde, dass Carottas Theorie falsch ist. Wenn dieser Jesus existierte, dann kann der historische Jesus nicht Caesar gewesen sein. Ganz einfach. Die Parallelen zwischen Evangelium und vita Caesaris blieben natürlich weiterhin interessant, wären aber für die eigentliche Geschichte nur noch nebensächlich. Wir könnten dann unsere Forschung beenden, diesen Blog schließen und Geld verdienen. In seiner Antwort bleibt Vogel aber fern von irgendeiner apologetischen Höchstform. Vielmehr wird’s häretisch. Vogel behauptet, in den Evangelien sei vieles “fiktional”. Aha. Wenn das Evangelium teilweise Fiktion ist, wer sagt uns denn dann, dass die Kreuzigung und vor allem die Auferstehung keine Fiktion sind? Es geht hier um Ostern, um die absolut ursächliche Grundlage des Christentums. Belege oder gar Beweise gibt es dafür blöderweise nicht. Also ist nicht auszuschließen, dass es sich hier ebenfalls um fiktionale “Übermalungen” handelt. Na dann viel Spaß noch, Herr Vogel, mit ihrer Pseudo-Religion namens “Christentum”. Wir hingegen sagen, dass nichts, aber auch rein gar nichts im Evangelium Fiktion ist. Es ist alles Geschichtsschreibung, von vorne bis hinten, nur halt verfremdet, verschrieben, verballhornt, fehlgelesen, falsch interpretiert – ein natürlicher Prozess, wenn man eine diegetische Transposition der Caesar-Quellen zugrundelegt. Aber fiktionale Elemente? Definitiv nicht. Ist Vogel also in Wahrheit ein myther? Ganz offensichtlich. Und noch einmal zur Erinnerung: Carottas Theorie bedeutet nicht, dass hinter Jesus keine historische Person steckt, sondern lediglich, dass diese historische Person Julius Caesar war. Oder hat Caesar etwa nicht gelebt?

Dann macht Vogel eine unglaubliche Bemerkung: “Vielmehr gilt, dass jedes Geschichtswerk und jede Biographie fiktionale Elemente enthält”, vor allem in der Antike, wo “Wahrheit ohne ein gewisses Maß an Dichtung […] überhaupt nicht sagbar [war].” Zunächst einmal gibt es einen gehörigen Unterschied zwischen Dichtung (i.e. poetischer Umschreibung und “Erschaffung”) und dem was heute unter “Fiktion” verstanden wird, der Erfindung von etwas Neuem ohne direkte oder erkennbare Verankerung in der Realität. Wenn beispielsweise der Dichter Horaz das “Zeitalter der Pyrrha” erwähnt, bedeutet das nicht, dass in der Zeit des Zweiten Triumvirats plötzlich Deukalions Ehefrau von den Toten auferstanden ist. Es ist eine poetisch-mythologische Umschreibung und Überhöhung der großen Mittelmeerflut des Jahres 43 BCE, über die man in Parallelquellen auch eher nüchterne Berichte findet. Also Dichtung, nicht aber Fiktion, denn die Flut gab es wirklich. Ein großer Unterschied. Weiterhin sollte Vogel einmal belegen, dass jedes Geschichtswerk und jede Biographie fiktionale Elemente enthält. Hat Caesar in seinem Werk über den Bürgerkrieg außer günstigen Interpretationen der Geschehnisse etwas “dazuerfunden”? Haben Sueton, Plutarch und Appian ihren Geschichtswerken fiktionale Elemente hinzugefügt? Im Endeffekt erkennen wir bei Vogel erneut eine pseudowissenschaftliche Argumentation: Im Wissen um die (angeblich) unmöglichen Passagen und Ereignisse im Evangelium – man bedenke allein Jesu Wundertaten! – nimmt er alle Historiographen in Sippenhaft und verkennt, dass es sich beim Evangelium um eine Hagiographie handelt, die zwar Geschichte versucht wiederzugeben, aber als kultisches Werk daran scheitern muss, aber auch scheitern darf. Das bedeutet aber nicht, dass das Evangelium fiktional ist, also nicht in einer bestimmten Realität verankert war – wir behaupten ja, dass nichts darin erfunden wurde! –, aber von diesem Spezialfall auf sämtliche antike Geschichtswerke zu schließen, ist schon ein starkes Stück!

Der aufmerksame Moderator hakt nach und fragt nach konkreten Beweisen für die Existenz des fabulierten Wandergaliläers namens “Jesus von Nazareth”, und wie zu erwarten eiert Vogel weiter rum. Zunächst antwortet er folgendes: “Es wird immer wieder behauptet, Jesus habe gar nicht gelebt […]”. Ah, so ist das also. Aber wenn Carotta dies wiederholt, soll es plötzlich “unseriös” sein? Dann sagt er uns, warum Jesu Nicht-Existenz immer wieder behauptet wird: “weil die ersten außerchristlichen Quellen erst aus dem zweiten Jahrhundert stammen.” Und? Ist das Schweigen der unabhängigen Quellen nun signifikant oder nicht? Dann versucht Vogel, das Dilemma zu relativieren: “Dieses Argument [der Nicht-Existenz Jesu] übersieht, dass das Christentum über eine Generation hinweg so unauffällig und unbedeutend war, dass es überhaupt nicht denkbar war, dass ein Profanhistoriker von dieser Bewegung Notiz genommen hätte.” Vogels kategorischen Fehler einmal außer Acht lassend handelt es sich hier um ein argumentum ex silentio, das als logischer Schluss nicht aufrechterhalten werden kann, denn eine angebliche anfängliche Marginalität des Christentums erklärt nicht das explosive, ubiquitäre und homogene Auftreten dieser Religion auf der antiken Weltbühne nach (in historischen Maßstäben) kurzer Zeit. Man kann den Kuchen nicht essen und gleichzeitig behalten. Das ist eine der grundlegenden Paradoxien in der Erforschung des frühen Christentums. Mit Carottas Theorie lässt sich dieses überraschende Phänomen allerdings sehr einfach erklären.

Dann fällt Vogel plötzlich doch noch etwas ein: “So ganz stimmt das auch nicht mit dem zweiten Jahrhundert: Wir haben außerchristlich Flavius Josephus Ende des ersten Jahrhunderts”. Ah, die stinkende Leiche namens Testimonium Flavianum wird doch noch exhumiert. Dies ist leider keine unabhängige historische Quelle, sondern eine spätere christliche Interpolation: Allein der Bruch im Textfluss sowie der jubilierende Stil belegen dies bereits. Origenes, der die meisten seiner Werke Anfang des dritten Jahrhunderts schrieb, kannte bereits die Marginalieninterpolation in Jos. Ant. 20.9, aber nicht das berüchtigte Testimonium Flavianum, weswegen es am wahrscheinlichsten ist, dass diese Passage im Verlauf des dritten Jahrhunderts erst eingefügt wurde. Apologeten versuchen sich natürlich weiterhin am Kleinklein, was diese Stelle angeht, zaubern verzweifelte Rettungstaten aus dem Hut, zum Beispiel ein früheres antichristliches Testimonium, was später nur pro-christlich umgeschrieben wurde, jedoch ohne Belege und unter Missachtung der Tatsache, dass jedes Testimonium an dieser Stelle eine Interpolation wäre, die den Textfluss für lange Zeit unterbricht. Wissenschaftlich korrekt betrachtet wird diese Passage mit großer Skepsis behandelt und darf demzufolge nicht als Beleg für die Existenz von “Jesus von Nazareth” verwendet werden, solange eine flavische Authentizität nicht jenseits der bislang berechtigten Zweifel belegt ist. Vogels Vorteil: Ein Theologe muss sich nicht notwendigerweise an wissenschaftliche Gepflogenheiten halten.

Vogel weiter: “Wenn wir aber die neutestamentlichen Texte anschauen, die alles andere als homogen sind – die eine große Vielfalt, eine soziologische, theologische Vielfalt erkennen lassen –, wenn wir diese Quellen nehmen, von denen wir wissen, dass sie in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts entstanden sind, und uns überlegen, ‘erklärt eine Fiktion diese Quellen eher als dass ein realer Mensch am Anfang stand’, dann muss man ganz klar der zweiten Möglichkeit den Vorzug geben.” Absolut richtig. Und? War Julius Caesar kein realer Mensch? Nur eine Bemerkung: Bei den Quellen, die in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts entstanden, also den Evangelien – unabhängig von den Datierungsschwierigkeiten: manche Forscher favorisieren nämlich für das erste Evangelium das Ende der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts CE –, handelt es sich lediglich um vorläufige Endfassungen einer Redaktionsarbeit. Das Urevangelium könnte man ca. um 40 CE datieren, aber auch 40 BCE, je nachdem welcher “reale Mensch” sich hinter der Figur “Jesus” verbirgt. Die Reste der ursprünglichen Latinismen im ältesten Evangelium (Markus) lassen zum Beispiel auf eine lange Redaktionsphase schließen, die sich über mehrere Generationen erstreckte, womit man automatisch im ersten Jahrhundert vor der Zeitenwende landet.

Nach einem kleinen privaten Exkurs kommt das Gespräch nochmal zurück auf Carottas Forschung, die so “schrecklich unseriös” sein soll, und Vogel sagt unumwunden: “Ich staune über die Rhetorik von Pseudowissenschaft […]”. Die Theorie, dass das Evangelium eine diegetische Transposition aus caesarischen Quellen ist, und dass sich das Christentum aus der östlichen Variante des Kultes des vergöttlichten Julius Caesar entwickelte, soll also Pseudowissenschaft sein. Na, dann schauen wir doch mal, ob das stimmt. Die Frage lautet: Arbeitet Carotta wissenschaftlich?

(1) Ist die Theorie falsifizierbar? Ja. Man könnte sich natürlich mit jedem einzelnen Punkt auseinandersetzen, aber es würde bereits reichen, zu beweisen (= ohne berechtigte Zweifel hinreichend zu belegen), dass “Jesus von Nazareth” existiert hat. Damit wäre Carottas Theorie widerlegt (s.o.). (2) Ist die Theorie reproduzierbar? Ja. Alle Quellen sind offen zugänglich. Geheimes Wissen, das nur Herr Carotta kennt, wird nicht vorausgesetzt. (3) Benutzt Carotta die wissenschaftliche Methode? Ja. (4) Ist die Theorie veröffentlicht? Ja, in vielfacher Form: als Buch in mehreren Auflagen und Sprachfassungen, in Auszügen und Zusammenfassungen im Internet, als peer-reviewed Artikel in einem Fachjournal sowie in einem Fachbuch über neue Wege der Jesus-Forschung. (5) Macht die Theorie Fortschritte? Ja. Es hat verschiedene Revisionen gegeben, Aufdeckungen von Irrwegen, Hinweise auf Probleme der Theorie, Lösungen dieser Probleme, Nachfolgeveröffentlichungen, regelmäßig neue und weitergehende Forschungsergebnisse, darunter auch weitere peer-reviewed Artikel, unter anderem in Isidorianum, dem Fachjournal der theologischen Akademie der Erzdiözese von Sevilla [!], sowie Ende 2011 in einem der weltweit wichtigsten Fachjournale für Alte Geschichte (ERIH-Ranking: A/INT1). (6) Wird die Theorie rezipiert? Ja, in vielfacher Form, darunter auch wissenschaftlich (s.o.). (7) Wurde die Theorie von anderen Wissenschaftlern aufgegriffen und erweitert? Ja, zum Beispiel vom Althistoriker Luciano Canfora. (8) Bricht die Theorie mit nachgewiesenen und akzeptierten Modellen, beispielsweise mit dem hellenistischen Einfluss auf das Evangelium? Nein. (9) Erzielt die Theorie fortschreitend mehr und bessere Ergebnisse als die traditionelle Theorie zu “Jesus von Nazareth”? Ja. Die klassische Jesus-Forschung tritt seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts auf der Stelle, während Carottas Theorie laufend neue Erkenntnisse und bessere Erklärungen erzielt (s.o.). (10) Besteht die Theorie nur aus Interpretation? Nein. Sie arbeitet mit einer Synopsis antiker Quellen, deren Bedeutung klar definiert ist. (11) Ignoriert die Theorie Quellen, die sie in Teilen oder gänzlich widerlegen würden? Nein. Bislang existiert keine Quelle, auf die dies zutrifft. (12) Enthält die Theorie Elemente, die bereits wissenschaftlich widerlegt wurden? Nein. (13) Besteht die Theorie aus vagen Vermutungen? Nein. Aufgrund der synoptischen Arbeitsweise besteht sie zum größten Teil aus direkten Belegen. (14) Ist das Sparsamkeitsprinzip (“Ockhams Rasiermesser”) auf die Theorie anzuwenden? Ja. Die Theorie enthält in ihren Einzelteilen keine Variablen, keine unnötigen neuen Annahmen, sie enthält einfachste Erklärungen sowie homogene und logische, strukturelle und systematische Beziehungen. (15) Kaschiert Carotta seine Theorie mit übermäßiger Fachsprache und Obskurantismus? Nein, ganz im Gegenteil. (16) Ist der Umfang und sind die Grenzen der Theorie klar definiert? Ja. (17) Personalisiert Carotta seine Forschung, zum Beispiel mit Verschwörungstheorien? Nein.

Zusammenfassung: Diese objektive Charakterisierung nach allgemein akzeptierten Kriterien bescheinigt Carottas Theorie uneingeschränkte Wissenschaftlichkeit. Pseudowissenschaftliche Theorien, selbst Theorien mit einzelnen parawissenschaftlichen Elementen, sehen anders aus. Vogels Kritik ist also lediglich eine gegenstandslose und ignorante Polemik. Ein billiger Vorwurf, nichts weiter. Anscheinend entnahm Vogel diesen Vorwurf ebenfalls der Wikipedia, wo in der damaligen Version des Artikels ein holländischer “Historiker”, der in Wahrheit ein stinknormaler Schullehrer für Geschichte ist, und der sich sogar einen Professorentitel erschwindeln wollte [sic!], mit einer ähnlichen Polemik angeführt wurde, dessen Vorwürfe jedoch längst widerlegt wurden (cf. Boer 2008; cf. Hendriks et al. 2008; cf. Reception: The Dutch controversy). Darüberhinaus wurden jene Verweise in der Wikipedia nachträglich eingefügt, um die Verleumdung Carottas als Pseudowissenschaftler aufrecht halten zu können, da diese ursprünglich ohne Belege vom protestantischen Kirchenmusiker Gerhard Sattler unter dem Pseudonym “Jesusfreund” eingefügt worden war.

Vogel führt sein unlauteres Vorgehen mit den Worten fort: “[…] es ist unglaublich mühsam, ein solches Flickwerk aus Halb- und Viertelwahrheiten zurechtzurücken; das ist wirklich unglaublich mühsam.” Dass Carottas Theorie weder “Flickwerk” ist noch aus “Halb- und Viertelwahrheiten” besteht, wurde oben bereits beschrieben. Allerdings ist hier festzuhalten, dass Vogel wenigstens zugibt, dass Carottas Theorie prinzipiell “zurechtgerückt”, also verändert oder gar widerlegt werden kann. Falsifizierbarkeit ist übrigens eine eindeutige und grundlegende Charakteristik von wissenschaftlichen Theorien, nicht unbedingt von pseudowissenschaftlichen (s.o.). Vogel widerspricht sich hier also selber. Dass es ihm so “schrecklich mühsam” erscheint, ist völlig bedeutungslos, und es zeugt eher von der Faulheit oder Unfähigkeit desjenigen, der sich darüber beklagt. Anders herum ließe sich jedoch sagen, dass eine Leichtigkeit der Widerlegung einer Theorie – sofern Falsifizierbarkeit überhaupt gegeben ist – eher auf ein pseudowissenschaftliches Gebilde schließen ließe. Aber der Professordoktor darf sich gerne mit Carottas Forschung beschäftigen. Bislang hat er es ja nicht getan, und schwafelt über Dinge, von denen er nachweislich nichts versteht.

Zum Schluss erklärt Vogel noch einmal, wo seiner Meinung nach “der Hund begraben” ist: “Es ist einfach dieser Gestus, eine Weltreligion in ihren Grundlagen zu erschüttern.” Das hatten wir oben bereits: Es geht nicht um die Erschütterung der Grundlagen, sondern um deren Aufdeckung. Vogel hat also bereits den Impetus unserer Arbeit völlig missverstanden. Aber es ist immer leichter, mit dem Finger auf andere zu zeigen: “Uuuh, seht mal, die bösen Antichristen!”

Flankiert wird Vogels Polemik von einigen Schmankerln im Begleittext zur Sendung auf der offiziellen Internetseite (s.o.). Auch hier wurde fleißig die Propaganda der Wikipedia übernommen, nämlich das Schlagwort der Wissenschaftsparodie. Dass diese Charakterisierung nicht nur aus dem Feuilleton kommt, sondern von einem alten Freund Carottas, der ihn noch als Satiriker aus ihren gemeinsamen Zeiten bei der taz kennt, braucht nicht weiter verwundern, ebensowenig dass die Wikipedia es in den Rang einer Expertenmeinung erhöht. Aber dass DRadio Wissen nicht prüft, was sie da schreiben, gibt zu denken. Der kurze Begleittext enthält darüberhinaus zwei weitere Bemerkungen von Manuel Vogel, die entweder aus Gründen der Laufzeit aus der Sendung entfernt wurden, oder die ihm erst später einfielen und nachgereicht wurden. Die erste Passage ist sehr erhellend: “[Carotta] wirft die verschiedenen Evangelien mit ihren ganz unterschiedlichen Überlieferungstraditionen durcheinander […].” Hätte Vogel das Buch gelesen, und nicht nur die Zusammenfassung, würde er wissen, dass Carottas Theorie sich bislang primär mit dem Markusevangelium befasst, weil es das älteste der kanonischen ist, und weil eine umfassende Untersuchung den Rahmen jedes Buches sprengen würde. Andere Evangelien werden nur in Ausnahmefällen herangezogen – insbesondere die anderen beiden Synoptiker, die nicht umsonst so heißen. Desweiteren ist es nicht nur eine falsche Behauptung, sondern auch ein Scheinargument, da es in Carottas Theorie ja darum geht, eine neue Überlieferungstradition aus römischen Quellen den bisherigen textkritischen Untersuchungen als historischer und historiographischer Überbau hinzuzufügen. Zum Schluss des Begleittextes scheint bei Vogel der alttestamentarische Protestant durch: “Es werden auch jüdische Prophezeiungen aufgegriffen, um Jesu Leben als die Erfüllung alter Vorhersagen zu schildern. Gerade um die Zeitenwende rechnete das Judentum mit der Wiederkehr Elijas und dem Beginn eines neuen Äons.” Absolut richtig, obwohl man fragen müsste, was jüdische Prophezeiungen denn mit der Frage nach der Historizität Jesu von Nazareth zu tun haben sollen. Diese Elemente sind (salopp ausgedrückt) die jüdische Sahne auf dem transponierten Caesar-Kuchen, das oben genannte Overlay. Es ist einer der grundlegenden Mechanismen, dass eine (diegetisch) transponierte Geschichte kulturell, mythologisch, geographisch, chronologisch und personell dem neuen Rezipientenkreis angepasst wird, und der befand sich nunmal in Palästina. So erklären sich die (je nach Überlieferungstradition!) verschiedenen alttestamentarischen Verweise, die midrashim und die jüdische bzw. judaisierte Terminologie: Judaismen tauchen zum Beispiel erst mit Matthäus auf, während man bei Lukas eigentlich von Septuagintismen sprechen sollte. Bei Markus indes, dem älteren der Synoptiker, sind es eher Aramäismen, neben den bereits erwähnten primären Latinismen. Dieser knappe Überblick zeigt bereits, dass der Prozess der diegetischen Transposition von Rom nach Galiläa ging, und nicht umgekehrt.

FAZIT: Der grundlegende Fehler dieses Interviews ist bereits die Auswahl des Gesprächspartners. Für die Radiomacher erscheint es aber möglicherweise naheliegend. Sie denken, Theologen wie Manuel Vogel würden es besser wissen. Dass aber gerade Theologen abblocken, weil sie selber Dreck am Stecken haben, will keiner mehr wahrhaben. Daran sind allerdings die Atheisten schuld, vor allem die mythers, denn mit ihrem Gegenmärchen, dass Jesus Christus nur ein reiner Mythos sein soll, haben sie paradoxerweise die fabulierende Orthodoxie gestärkt, die wenigstens die historische Existenz aufrecht hält, wenn auch eine transponierte und mutierte. Das Problem ist, dass gegen Carottas Theorie jene Argumente angewandt werden, die einerseits für die Fabulierer gelten, andererseits für die mythologische Schule. Von beiden Seiten wird daraus ein wilder Mischmasch gebacken, und Carottas Theorie von beiden Seiten verworfen – en bloc, möglichst ohne Untersuchung des eigentlichen Gegenstands: Das erspart es ihnen, sich selbst in Frage zu stellen, und so können sie auf beiden Seiten des religionshistorischen Schützengrabens weiter ihre jeweiligen Märchen zum besten geben.

Francesco Carotta selbst wurde übrigens zu diesem Interview nicht eingeladen.

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Bildquelle: MisterHobbes (Copyright © 2010 MisterHobbes; owner notified without reply)
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